- Gleichgewichtsorgane: Sinnesorgane ohne eigene Empfindung
- Gleichgewichtsorgane: Sinnesorgane ohne eigene EmpfindungDie Gleichgewichtsorgane, die Bogengang- und Statoorgane, sind an vielen Wahrnehmungen beteiligt, rufen aber keine eigenen Empfindungen hervor. Das körperliche Gleichgewicht nehmen wir allerdings nicht unmittelbar wahr, sondern nur indirekt, etwa an den Reflexbewegungen, mit denen wir uns im Gleichgewicht halten. Nicht einmal das Schwindelgefühl, welches eine Gleichgewichtsstörung anzeigt, kann man eindeutig auf die Gleichgewichtsorgane zurückführen. Es lässt sich zwar über die Bogengänge auslösen, aber auch ohne diese, allein durch einen Blick in den Abgrund, hervorrufen. Die Gleichgewichtsorgane vermitteln somit zwar das Gleichgewicht, aber keine Empfindungen. Ohne wissenschaftliche Untersuchungen wüsste niemand, dass er diese Sinnesorgane besitzt, weil sie zusammen mit der Schnecke im Knochen des Felsenbeines verborgen sind. Ihre Funktion wurde erst spät aufgeklärt. Seit 1824 weiß man, dass Vögel und Katzen nach chirurgischen Eingriffen an diesen Sinnesorganen ihr Gleichgewicht nicht mehr halten können. Wie diese Organe funktionieren, wurde erst später geklärt.Die Verwandtschaft der Gleichgewichtsorgane zum InnenohrDie Gleichgewichtsorgane und die Schnecke haben sich im Laufe der Evolution der Wirbeltiere wie das Seitenlinienorgan der Haut entwickelt. Dieses Sinnesorgan vermittelt Fischen und Amphibien im Wasser den Ferntastsinn. Bei den außerhalb des Wassers lebenden Wirbeltieren ist das Seitenlinienorgan verloren gegangen. Die Fische und Amphibien haben außer dem Seitenlinienorgan bereits Ohren sowie Stato- und Bogengangorgane. Trotz der verschiedenen Aufgaben dieser Sinnesorgane stimmen sie in einigen Struktur- und Funktionseigentümlichkeiten überein.Die Sinneszellen der Seitenlinien-, Stato- und Bogengangorgane sowie der Schnecke sind Haarzellen. Sie besitzen außer den Stereovilli einen weiteren Fortsatz, das Kinocilium, von dem bei den Sinneszellen der menschlichen Schnecke nur der untere Teil vorhanden ist. Bei den Stato- und Bogengangorganen unterscheidet man zwei Arten von Sinneszellen. Die eine ist von der Synapse einer schnell leitenden Nervenfaser kelchförmig umschlossen. Haarzellen dieses Typs melden nur Reizänderungen. Der zweite Typ ist mehr zylindrisch gestreckt und über viele Synapsen mit dem Gehirn verbunden. Die mit diesen Zellen verbundenen Nervenfasern feuern im ungereizten Zustand mit einer Frequenz von etwa 70 Aktionspotenzialen pro Minute. Die Frequenz erhöht sich, wenn die Stereocilien zum Kinocilium hin gebogen werden und wird kleiner bei Auslenkung in die Gegenrichtung.Die Spitzen der Stereovilli sind wie bei den Hörzellen durch molekulare Fäden verbunden. Eine Auslenkung der Stereovilli zum Kinocilium hin erhöht die mechanische Spannung dieser Verbindung. Durch den mechanischen Zug öffnen sich in der Membran der Stereovilli molekulare Kanäle für positive Ionen, die dann ins Innere der Sinneszellen strömen und eine Verkleinerung des elektrischen Membranpotenzials der Sinneszelle bewirken. So wird der Erregungsvorgang bei den genannten Sinnesorganen eingeleitet. In allen diesen Sinnesorganen enden auf den Haarzellen auch hemmende Nervenfasern, die ihren Ursprung im Gehirn haben.Bau und Arbeitsweise dieser SinnesorganeDie StatoorganeWer beim Fotografieren die Kamera nicht gerade hält, produziert Bilder, auf denen Bäume und Häuser scheinbar schräg stehen. Glücklicherweise bleibt uns beim Sehen dieser irreführende Eindruck erspart, wenn wir den Kopf zur Seite neigen, da die Statoorgane die Richtung der Schwerkraft melden und diese Information in die Bildverarbeitung im Gehirn einfließt. Die Schräglage der Abbildung im Auge kann so korrigiert werden. Damit ist die erste Aufgabe der Statoorgane gekennzeichnet. Sie reagieren auf die mechanische Kraft, die vom Schwerefeld der Erde ausgeht. Wie die Statoorgane diese Aufgabe erfüllen, kann man sich am besten an ihrem Bau klarmachen.Auf jeder Seite des Kopfes gibt es zwei Statoorgane, die senkrecht zueinander angeordnet sind, die Utriculus- und die Sacculus-Statolithenorgane. Wenn man den Kopf um 30º nach vorne neigt, liegen die Utriculus-Statolithenorgane waagerecht, die Sacculus-Statolithenorgane aber senkrecht. Die Stereovilli und das Kinocilium der Haarsinneszellen eines Statolithenorganes ragen in eine elastische Masse hinein, welche schwere Kristalle, die Statokonien, enthält. Wenn ein waagerechtes Statoorgan gekippt wird, rutscht die schwere Masse zur Seite und biegt die Kino- und Stereocilien ab. Das ist dann der adäquate Reiz für diese Sinneszelle.Jede Kopfhaltung reizt jeweils andere Haarsinneszellen der spiegelbildlichen, annähernd flachen Statoorgane maximal. Die Statoorgane reagieren auch auf Trägheitskräfte, die bei Geschwindigkeitsänderungen auftreten. Diese Kräfte drücken die Insassen beim Anfahren (positive Beschleunigung) in den Autositz. Beim plötzlichen Bremsen (negative Beschleunigung) wirkt die Kraft in der Gegenrichtung. Auch die Fliehkraft auf dem Karussell ist eine Trägheitskraft.Nach der allgemeinen Relativitätstheorie sind Schwerkraft und Trägheitskräfte äquivalent, das heißt letztlich dasselbe. Die einzelnen Sinneszellen können nicht zwischen ihnen unterscheiden. Durch die Auswertung der Statoerregung im Gehirn können wir aber die verschiedenen Reizbedingungen auseinander halten. Eine Kopfneigung nach vorne reizt beide Utriculus-Statoorgane gleich stark, eine Kopfneigung zur Seite dagegen biegt die Cilien auf der einen Seite zur Kopfmitte, die der anderen aber in entgegengesetzter Richtung. Bei einer Drehung um die Längsachse treibt die Fliehkraft die Statokonienmasse auf beiden Seiten nach außen und erregt die spiegelbildlich gebauten Utriculus-Statoorgane wieder gleich. Die gesuchte Information über die tatsächliche Lage und Bewegung des Kopfes entsteht erst im Gehirn durch geeignete Verknüpfung der Signale von den anatomisch entsprechenden Arealen.Die Kraft, welche die Statokonienmasse zur Seite schiebt, ist der Schwerkraft und dem Sinus des Neigungswinkels proportional, das heißt, der Reiz nimmt mit dem Neigungswinkel sinusförmig zu oder ab. Die oben erwähnten Haarsinneszellen des zweiten Typs ändern die Frequenz ihrer Aktionspotenziale ebenfalls mit dem Sinus des Neigungswinkels. Sie bestätigen damit die Reiztheorie, nach der die Verbiegung des Kinociliums und der Stereovilli der adäquate Reiz ist. Dass die Verschiebung und nicht etwa der Druck der Statokonien auf die Unterlage der adäquate Reiz ist, bewies erst 1950 Erich von Holst durch verhaltensphysiologische Arbeiten an Fischen.Mit den Utriculus-Statolithen allein könnten wir zwischen der Neigung 0º und 180º nicht unterscheiden und die Empfindlichkeit für Winkeländerungen wäre bei 90º und 270º viel kleiner als zwischen diesen Winkeln, weil die Sinuskurve dort flach verläuft. Weil es aber zwei senkrecht zueinander stehende Statoorgane gibt, befindet sich immer nur eines der beiden Organe im kritischen Winkelbereich. Man nennt dieses Prinzip der Winkelmessung nach dem Vorschlag von Horst Mittelstaedt Bikomponentenprinzip.Das BogengangsystemAuch die Bogengänge reagieren auf Trägheitskräfte. Ursache dafür sind hier aber nicht Beschleunigungen in beliebige Richtungen des Raumes, sondern Drehbeschleunigungen. Diese treten bei allen Kopfdrehungen auf. Die Physik der Bogengangfunktion kann an einer Kaffeetasse erklärt werden. Dreht man sie um ihre Hochachse, dreht sich der Kaffee nicht gleich mit. Er bleibt wegen seiner Trägheit hinter der Drehung zurück und bewegt sich deshalb relativ zur Tasse. Erst wenn sich die Tasse immer weiter dreht, folgt ihr schließlich der flüssige Inhalt. Wenn man die Bewegung des Kaffees in der Tasse registrieren könnte, hätte man ein Messgerät für Drehbeschleunigungen.Das Bogengangsystem funktioniert nach dem selben Prinzip. Es besteht aus drei kreisförmigen Kanälen, die mit Flüssigkeit, der Endolymphe, gefüllt sind. Die drei Bogengänge stehen senkrecht aufeinander. Jeder reagiert am stärksten auf Drehbeschleunigungen um die Raumachse, die senkrecht durch seinen Ring verläuft. Wenn die gemeinsame Drehachse des Kopfes auf keinem der Bogengänge senkrecht steht, reagieren alle drei, aber je nach der Orientierung der Drehachse verschieden stark. Die Information über die Richtung der wahren Drehachse steckt somit im Verhältnis der drei Bogengangreaktionen. Man kann die Drehbeschleunigung für jeden Bogengang als Vektor darstellen und durch Vektoraddition die Drehachse und die Größe der Beschleunigung berechnen.Ein Blick auf die Anatomie der Bogengänge zeigt, dass jeder von ihnen an einer Stelle, der Ampulle, verdickt ist. In ihr befindet sich eine dicht schließende Klappe, die Cupula. Wenn der Bogengang durch eine Drehbewegung gedreht wird, bleibt sein Flüssigkeitsinhalt hinter der Drehung zurück wie der Kaffee in der Tasse. Die sich relativ zum Gang bewegende Flüssigkeit drückt dann gegen die Cupula und biegt sie durch. Sie ist glasklar und daher erst bei Anfärbung der Endolymphe sichtbar. Die Durchbiegung ist aber bei den üblichen Drehbeschleunigungen so gering, dass man sie nicht sehen kann. An der Basis der Cupula befinden sich die Sinneszellen. Der Reiz besteht auch hier, wie bei allen Haarsinneszellen, aus der Abbiegung des Kinociliums und der Stereovilli.Die Cupula leistet der Strömung durch die elastische Gegenkraft bei der Verbiegung und durch eine aktive Gegenbewegung der Cilien Widerstand. Außerdem wird die Trägheitsströmung durch die innere Reibung (Viskosität) der Endolymphe gebremst. Der Physiker erkennt sofort, dass in diesem System die relative Größe des Trägheitsmomentes, der Viskosität und der Elastizität darüber entscheiden, wie der Prozess abläuft. Die Cupula könnte nach einer Auslenkung noch lange hin- und herschwingen oder ganz langsam wieder in die Ausgangslage zurückkehren. Das Cupula-Endolymphe-System ist ein gedämpftes System und kehrt daher langsam in seine Ausgangslage zurück. Diesen Zeitverlauf der Bogengangreize kann man an seinen eigenen Wahrnehmungserlebnissen erfahren.Wie sich Stato- und Bogengangorgane bei der Wahrnehmung bemerkbar machenDie Menschen leben im Schwerefeld der Erde. Darum droht ihnen ständig die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und sich bei einem Sturz zu verletzen. Die Bogengänge und Statoorgane sind an der lebenswichtigen Aufgabe, das Gleichgewicht zu halten, beteiligt. Trotzdem wird die Regelung des Gleichgewichtes hier ausgeklammert, weil sie weitgehend automatisch abläuft, und wir nicht viel davon mitbekommen. Hier soll es um Wahrnehmung gehen.Wahrnehmung im Schwerefeld der ErdeEs gibt Menschen, bei denen die Statoorgane nicht funktionieren, ohne dass sie es merken. Sie orientieren sich mit den Augen wie die Astronauten, die zwar Statoorgane haben, aber in ihren Raumkapseln ohne Schwerkraft leben. Die Astronauten haben in der Schwerelosigkeit keine grundsätzlichen Wahrnehmungsprobleme. Ihnen bleibt das Gefühl für oben und unten erhalten. Unten ist für sie da, wo die Füße sind. Der Einfluss der Statoorgane auf die Wahrnehmung ist nicht leicht zu erkennen, zumal auch ohne sie sichere Wahrnehmungen möglich sind. Er kommt ins Spiel bei der Bildverarbeitung im Gehirn. Dort wirken allerdings auch Sinnesmeldungen von unübersehbar vielen anderen Sinnesorganen wie den Bogengängen oder den Stellungsrezeptoren der Gelenke.Wenn wir im Bett liegen oder auf dem Kopf stehen, sehen wir unsere Umgebung im Prinzip unverändert. Oben und unten bleiben weiter unter der Kontrolle der Schwerkraft. So ist es zunächst auch bei der nebenstehenden Abbildung: Das auf der Spitze stehende Quadrat sieht wie eine Raute aus. Wenn man das Bild zur Seite kippt, wird die Raute zum Quadrat und das Quadrat zur Raute. Die Orientierung im Schwerefeld, dessen Ausrichtung die Statoorgane feststellen, entscheidet hier, was wir sehen. Das ist auch bei dem doppeldeutigen Kopf der Fall. Die oberen fünf Figuren sehen wie bärtige Männer mit Mütze aus, die unteren wie Frauen mit hochgesteckter Frisur. In den waagerechten Figuren erkennen wir den Mann und die Frau, allerdings nicht beide gleichzeitig. Eine zusätzliche Erklärung verlangt folgende Beobachtung: Wenn wir die aufrecht stehenden Bilder mit zur Seite geneigtem Kopf betrachten, bleiben sie im Gegensatz zu allen anderen Gegenständen der Umgebung nicht gleich. Raute und Quadrat verwandeln sich ineinander, obwohl ihre Orientierung im Schwerefeld gleich geblieben ist. Die fünf bärtigen Männer sind nicht mehr die oberen, die fünf Frauen nicht mehr die unteren und die ambivalenten Köpfe sind nicht mehr die horizontalen. Das Ergebnis der Bildverarbeitung, also die Alternative von Mann und Frau in der Wahrnehmung, dreht sich ein wenig mit, wenn wir den Kopf zur Seite neigen.Diese Wahrnehmungstäuschung ist leichter zu beobachten als die damit verwandte, nach ihrem Entdecker Hermann Aubert genannte Erscheinung. Man braucht zur Demonstration des Aubert-Phänomens einen vollständig dunklen Raum, in dem nur eine senkrecht stehende helle Linie zu sehen ist. Wenn man den Kopf zur Seite neigt, bis man mit dem Ohr eine Schulter berührt, sieht die helle Linie so aus, als habe sie sich ein wenig zur Gegenseite gedreht. Sie scheint schräg im Raum zu stehen. Die beobachteten Winkelabweichungen von der Lotrechten können bis zu 45º betragen. Öffnet man dann die Tür, sodass ein wenig Licht in den Raum hereinkommt und die Einrichtung erkennbar wird, richtet sich die helle Linie langsam auf. Schließt man die Tür, dreht sie sich wieder in die Schräglage zurück. In dieser Bewegung erlebt man, wie das Gehirn verschiedene Sinnesmeldungen miteinander verrechnet.Diese Erscheinungen lassen sich mithilfe eines Vektormodells erklären. Zwischen der physikalischen Vertikalen, die von den Statoorganen aus der Schwerkraft gewonnen wird, und der wahrgenommenen subjektiven Vertikalen besteht ein Unterschied, der sich in Auberts Versuch bemerkbar macht. Um zu erklären, wie das Gehirn zu dieser Abweichung kommt, führte Horst Mittelstaedt 1983 eine dritte Größe ein, den ideotropen Vektor in Richtung der Körperlängsachse. Er macht sich bei den Astronauten in dem Gefühl bemerkbar, unten sei in der Schwerelosigkeit da, wo die Füße sind. Durch Vektoraddition der physikalischen Vertikalen und des ideotropen Vektors entsteht die subjektive Vertikale. Sie erreicht ihre größte Schräglage bei einer Kopfneigung von 90º zur Seite. Die subjektive Vertikale zeigt die Richtung an, in der die Versuchsperson die physikalische Vertikale vermutet. Weil die helle Linie in Auberts Versuch aber objektiv gleich bleibt, erschien sie so, als sei sie zur Gegenseite gekippt. Diese Deutung erklärt auch ein anderes Phänomen: Der Vektor der subjektiven Vertikalen ist bei aufrechter Haltung größer als bei einem Kopfstand. Tatsächlich sind alle Angaben über räumliche Orientierungen bei aufrechtem Kopf sicherer und genauer möglich als mit nach unten gerichtetem Kopf. Die theoretische Verrechnungsgröße des ideotropen Vektors ist nur in der visuellen Bildverarbeitung nachzuweisen. Bei der Schräglage der hellen Linie im Dunklen, bei der Umwandlung von Raute und Quadrat oder bei den ambivalenten Gesichtern macht sich der ideotrope Vektor zusammen mit der physikalischen Vertikalen in der visuellen Bildverarbeitung bemerkbar. Bei anderen Wahrnehmungsaufgaben ist das nicht der Fall. Wenn die Versuchspersonen aufgefordert werden, sich selbst oder einen Gegenstand, den sie anfassen können, im Dunkeln senkrecht oder waagerecht einzustellen, gelingt ihnen das fehlerfrei ohne die beim Sehen auftretenden systematischen Abweichungen.Eine andere Wahrnehmungstäuschung, die auf die Statoorgane zurückgeht, erlebt man beim Blick aus dem Flugzeug, wenn es eine Kurve durchfliegt, oder in Zügen mit Neigetechnik in Kurven. In beiden Fällen kann es geschehen, dass beim Blick aus dem Fenster der Horizont, Bäume und Gebäude scheinbar schräg stehen. Dieses Phänomen lässt sich mit einem Karussellversuch erklären. Auf die Statoorgane wirkt hier zusätzlich zur Schwerkraft auch die Fliehkraft. Die resultierende Kraft weist in eine neue Richtung. Die Statoorgane melden, dass man nach außen gekippt sei. Als Folge davon werden die Reflexbewegungen nach innen ausgelöst, die man an der Kopfneigung von Autofahrern in einer Kurve sehen kann. Weil aber das Flugzeug oder der Neigetechnik-Zug schon nach innen geneigt ist, merkt man kaum etwas von der Fliehkraft in der Kurve. Der Körper richtet sich in der Kurve nach der Kraft, die in dem geneigten Fahrzeug im Idealfall senkrecht zum Boden weist. Die Kraft übernimmt in diesem Fall die Rolle der Schwerkraft und man merkt nichts von der Schräglage des Fahrzeugs. Beim Blick aus dem Fenster überrascht dann die scheinbar gekippte Außenwelt.Wie geradlinige Beschleunigungen im Gehirn ausgewertet werden, ist noch immer nicht ganz klar. Wenn die Beschleunigung sehr groß ist, wie bei einem schnell startenden Flugzeug, kann es zu einer gefährlichen Wahrnehmungstäuschung kommen. Die Verschiebung der Statokonienmasse nach hinten täuscht dann eine Neigung des Kopfes nach hinten vor, obwohl die Reizrichtung bei den Sacculus-Statolithen, die Gesamtheit der Gelenkrezeptoren im Körper und die anderen Sinne diese Kopfbewegung nicht bestätigen. Der wahrgenommene Horizont wandert dann mit der scheinbaren Kopfdrehung aufwärts, und das Gefühl, nach hinten zu kippen, kann zu einer Korrektur des Anstiegswinkels des Flugzeugs nach unten und damit zum Absturz führen. Der Pilot muss in solchen Situationen den Instrumenten mehr glauben als seinen Sinnen. Auch diese Täuschung kann man auf einem Karussell beobachten.Abschließend sei noch daran erinnert, dass Menschen gleichmäßige Bewegungen nur mit den Augen feststellen können. Sieht man bei gleich bleibender Geschwindigkeit aus einem Flugzeug oder einem Zug hinaus, kann man die Bewegungsrichtung feststellen. Mit geschlossenen Augen kann man dagegen nur die Änderungen der Geschwindigkeit, die positiven und negativen Beschleunigungen, fühlen.Wahrnehmung bei DrehbeschleunigungenEine sehr wichtige Leistung der Bogengänge ist leicht zu beobachten. Wenn man einen Finger aufrecht vor das Gesicht hält, und den Kopf etwa dreimal in der Sekunde hin- und herdreht, bleibt der Finger mit allen Einzelheiten erkennbar. Hält man aber den Kopf still, und bewegt den Finger hin und her, dann verschwimmen die Einzelheiten und die Ansicht des Fingers wird undeutlich. Im ersten Fall wurde die Drehbeschleunigung durch die Bogengänge registriert, im zweiten nicht. Darin zeigt sich, wenn auch indirekt, ein nützlicher Beitrag der Bogengänge zum Sehen.Einen Eindruck von den Leistungen der Bogengänge vermitteln Drehstuhlversuche. Vor Beginn des Versuchs werden der Versuchsperson die Augen verbunden. Sie soll weder durch Geräusche, Luftzug oder andere Reize ihre Umgebung wahrnehmen können. Mit gestrecktem Arm deutet die Versuchsperson in eine Richtung. Dreht man sie hin und her, nimmt sie das in der Regel wahr und korrigiert die Richtung der Hand, sodass sie immer in dieselbe Raumrichtung weist. Versetzt man den Stuhl so langsam in Drehung, dass der Reiz durch die Drehbeschleunigung für die Bogengangorgane zu klein ist, wandert der gestreckte Arm mit der Versuchsperson im Kreise herum. Hält man den langsam rotierenden Stuhl plötzlich an, kommt die Endolymphe in den horizontalen Bogengängen nicht gleich zur Ruhe, sondern fließt weiter, was die Cupula ausbeult und damit reizt. Die Versuchsperson, die von der vorangegangenen Drehung nichts bemerkt hat, glaubt nun sie sei in die Gegenrichtung beschleunigt worden. Obwohl sie still steht, korrigiert sie die scheinbare Drehung, sodass ihr ausgestreckter Arm immer weiter wandert, bis die Cupula wieder in ihre Ausgangsstellung zurückgekommen ist. Das kann mehr als 30 Sekunden dauern. Der Arm der Versuchsperson zeigt in diesem Fall nicht die Drehbewegung, wohl aber den Zustand der Cupula im horizontalen Bogengang richtig an. Durch die Reizung der Bogengänge kann es zu Schwindelgefühlen und, was gefährlicher ist, zu Gleichgewichtsverlust mit plötzlichen heftigen Reflexbewegungen kommen. Deshalb muss man die Versuche vorsichtig durchführen und die Versuchsperson notfalls festhalten.Zwei ungewöhnliche Reizungen der Bogengänge sollen noch erwähnt werden. Die eine ist die Reizung durch Corioliskräfte, die der folgende Versuch verdeutlicht. Eine Versuchsperson hält, während sie sich im Kreise dreht, mit gestreckten Armen einen durchsichtigen, flüssigkeitsgefüllten Ring als das Modell eines Bogengangs. Die Bewegungsenergie der Flüssigkeit ist umso größer, je weiter der Ring von der Drehachse entfernt ist. Hält die Versuchsperson ihn waagerecht, ist die Bewegungsenergie in dem äußeren, weiter von der Drehachse entfernten Teil des Rings größer als im näheren Teil. Trotzdem bewegt sich bei anhaltender Kreisbewegung die Flüssigkeit in dem Ring nicht. Wenn die Versuchsperson den Ring aber während der Drehung um die eigene Achse aufrichtet, kommt der äußere Teil des Rings näher zur Drehachse und der innere Teil weiter nach außen. Die Flüssigkeit im nach innen bewegten Teil hat eine höhere Bewegungsenergie, und die nach außen bewegte Hälfte eine niedrigere, als es der neuen Kreisbahn entspricht. Daraufhin setzt eine Kreisströmung im Ring ein, die aber wegen der inneren Reibung bald wieder aufhört. Kippt die Versuchsperson den Ring bei weiterer Drehung um die eigene Achse wieder in die Horizontale, kommt es im Ring zu einem Fluss in die Gegenrichtung. Derartige Effekte treten in schnell durchfahrenen Kurven auf, insbesondere wenn man den Kopf bewegt. Auf einem Karussell ist diese Situation leicht nachzustellen.Rätselhaft ist immer noch der kalorische Nystagmus, eine Augenbewegung, die über die Bogengänge ausgelöst wird, wenn man warmes oder kaltes Wasser in den äußeren Gehörgang füllt. Der Kopf wird dafür so weit nach hinten geneigt, dass die horizontalen Bogengänge senkrecht stehen. Stellt man danach den Kopf aufrecht, hat man eine Drehempfindung. Der Entdecker dieses Effektes, Robert Bárány, entwickelte das Phänomen zu einem diagnostischen Test der Funktionstüchtigkeit der Bogengänge. Er glaubte, dass sich durch die Temperaturänderung die Endolymphe im horizontalen Bogengang aufwärmt beziehungsweise abkühlt und sie dann bei aufgestelltem Kopf wie das warme Wasser in einer Zentralheizung aufsteigt oder wie das kältere absinkt. Diese Deutung ließ sich in der Schwerelosigkeit nicht bestätigen. Die temperaturabhängigen Dichteänderungen können sich dort nicht auswirken. Der kalorische Nystagmus trat aber trotzdem auf.Prof. Dr. Christoph von Campenhausen, Mainz
Universal-Lexikon. 2012.